
Wieso braucht es überhaupt ein Forschungsinstitut wie das IAB?
Friedrich Buttler: Der Arbeitsmarkt spielt eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Schlüsselrolle. Daher ist es von größter Bedeutung, dass ein solches Institut wie das IAB existiert. Dieter Mertens, der Gründungsdirektor des IAB, hat seinerzeit festgestellt, dass das Thema Arbeitsmarktforschung nicht im Fokus des Interesses der Universitäten stand. Das war seine Motivation, sich mit einem Forschungsinstitut als Teil der Bundesanstalt, heute Bundesagentur für Arbeit, zu engagieren. Hinzu kommt der große komparative Vorteil des Zugangs zu den Datenschätzen der BA.
Um welche Themen ging es in der Gründungszeit des IAB?
Buttler: Damals standen ganz andere Fragen im Vordergrund. Massenarbeitslosigkeit war seinerzeit noch kein Thema. Das kam erst 1975 mit der Ölkrise auf. Der Auftrag ist von Anfang an ein breiterer gewesen. Bei der Gründung des IAB 1967 standen ähnlich wie bei der heutigen Debatte um Industrie 4.0 beziehungsweise Wirtschaft 4.0 grundlegende Fragen des durch technisch-organisatorischen Fortschritt ausgelösten Strukturwandels Pate. Das Stichwort hieß „Automatisierungsdiskussion“. Dies zeigt: Schon damals, und darauf lege ich großen Wert, war der Auftrag des IAB nicht nur die nachlaufende Wirkungsforschung, sondern breiter. Dies würde sonst der Aufgabe des IAB nicht gerecht. Schon nach § 3 Absatz 2 des Arbeitsförderungsgesetzes von 1969, das die Aufgaben des Instituts erstmals bundesrechtlich normierte, war die Forschung des IAB nicht auf die administrativen Bedürfnisse der BA beschränkt. Man kann aus meiner Sicht durchaus darüber streiten, ob sich das IAB heute nicht zu stark mit diesem Themenkomplex befasst.

Von links: Dr. Andrea Kargus, Prof. Friedrich Buttler, Prof. Jutta Allmendinger, Karl-Sebastian Schulte, Dr. Martin Schludi | Bild: Wolfram Murr
Herr Buttler, Sie waren von 1988 bis 1994 Direktor des IAB. In Ihre Amtszeit fällt die Wiedervereinigung. Wie hat diese die Arbeit am IAB geprägt?
Buttler: Ganz außerordentlich. Selbst wir im IAB, die wir schon bei einer Anhörung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales im Sommer 1990 wegen unseres Hinweises auf die Notwendigkeit eines milliardenschweren Arbeitsmarktprogramms für die neuen Bundesländer als Pessimisten galten, haben die Dramatik der Herausforderung deutlich unterschätzt. Der Produktivitätsrückstand der DDR war viel größer als gedacht. Westdeutsche Forschungsinstitute waren damals davon ausgegangen, dass der Rückstand gegenüber Westdeutschland bei einem Drittel liegt. Später hat sich herausgestellt : Es waren zwei Drittel.
Ein zentrales Problem für uns war die sehr schlechte Datenlage. Wir mussten die Datengrundlagen für die Geschäftspolitik der BA in den neuen Bundesländern, für die Orientierung und Begleitung der massiven Programme aktiver Arbeitsmarktpolitik insgesamt, für den Ausbau regionaler Arbeitsmarktinformationen und entsprechender Materialien für die Ämter ganz neu aufbauen. Die Geschäftsstatistik der BA , auf die sich das IAB regelmäßig bezieht, konnte ja für die neuen Bundesländer erst mit fortschreitender Tätigkeit entstehen.
Aber ein Strukturbruch erschwert eben auch die Arbeitsmarktvorausschau, zum Beispiel für den Arbeitskräftebedarf nach Branchen, Berufen und Qualifikationen: Für welche Arbeitsplätze sollte im Nebel der sich auflösenden bisherigen und unklaren künftigen Branchen- und Regionalstrukturen qualifiziert werden? Die für das IAB selbstkritische Mahnung unseres verstorbenen Mitarbeiters Hans-Uwe Bach: „Der erfahrene Prognostiker wartet besser die Ereignisse ab“, traf selten mehr den Nagel auf den Kopf als zu der Zeit. Auf jeden Fall lag der Schwerpunkt der Arbeit des IAB in den Jahren von 1990 bis 1993 eindeutig auf den neuen Bundesländern, insbesondere was die Beratung der Bundesagentur betraf.
Was waren weitere Schwerpunkte Ihrer Amtszeit?
Buttler: Neben der Ergänzung der kurzfristigen Arbeitsmarktvorausschau und der Arbeit mit dem gesamtwirtschaftlichen Simulationsmodell Sysifo, das aber letztlich nicht reüssiert hat, war dies vor allem der Aufbau des IAB-Betriebspanels vor 25 Jahren – und verbunden damit die Zusammenführung von personen- und betriebsbezogenen Daten. Es ist ja heute noch von ganz großer Bedeutung.
Buttler: „Die Forschung des IAB ist nicht auf die administrativen Bedürfnisse der BA beschränkt.“
Karl-Sebastian Schulte: Wir schätzen das IAB-Betriebspanel sehr, jüngst etwa im Zusammenhang mit der Mindestlohnforschung.

Prof. Friedrich Buttler | Bild: Wolfram Murr
Buttler: Damals habe ich bei einem Spaziergang mit dem renommierten Münchner Soziologen und Freund des IAB, Burkart Lutz, anlässlich einer wissenschaftlichen Tagung die Idee für ein Betriebspanel erläutert. „Nein“, sagte er, das ist ein zu großes Rad, das Sie da drehen wollen. Lassen Sie die Finger davon!“ Da wusste ich: Das machen wir! Die Unterstützung durch BA-Vorstand und Verwaltungsrat, also Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbänke, war hier ganz wichtig. Denn ein Panel lebt ja davon, dass es über die Zeit stabil bleibt. Und das setzt eine sehr hohe Identifikation der Beteiligten mit dem Projekt voraus – was ja auch gelungen ist.
Außerdem haben wir damals die Offene-Stellen-Erhebung eingeführt, die ja heute noch von Bedeutung ist. Damals hatte die Bundesanstalt bei den offenen Stellen nur einen Anteil von 35 Prozent, der ihr auch gemeldet wurde. Das kann natürlich für den Gesamtmarkt an offenen Stellen in keiner Weise repräsentativ sein. Mit der Offene-Stellen-Erhebung konnten wir diese Lücke schließen.
Damals gab es im IAB wesentlich weniger Fluktuation als heute. Welche personalpolitischen Herausforderungen ergaben sich daraus?
Buttler: Es ging um die Verjüngung und Qualifizierung der wissenschaftlichen Mitarbeiterschaft. Als ich ins IAB kam, übergab mir Dieter Blaschke symbolisch die „rote Laterne“ des zuletzt eingestellten wissenschaftlichen Mitarbeiters, die er mehr als sechs Jahre getragen hatte. Tatsächlich war das Durchschnittsalter der wissenschaftlichen Mitarbeiter zwischen seinem und meinem Arbeitsbeginn um eben diese Zeitspanne angestiegen. Das war für mich ein Schock. Die Alters- und die formale Qualifikationsstruktur hat sich demgegenüber heute stark verändert. Die Gremien der BA stimmten auch meinem Vorschlag zur Finanzierung eines Doktorandenförderungsprogramms zu. Aber die Kritik an der seinerzeitigen Altersstruktur möchte ich nicht als persönliche Kritik an den damaligen Kollegen verstanden wissen, von denen ich sehr viel gelernt habe.
Frau Allmendinger, in Ihre Amtszeit als Direktorin von 2003 bis 2007 fielen unter anderem die Hartz-Reformen. Wie haben sich diese auf die Arbeit des IAB ausgewirkt?
Jutta Allmendinger: Für das IAB bedeutete das nicht weniger als einen Paradigmenwechsel. Neben der Arbeitslosenversicherung ist das IAB seitdem auch für die Grundsicherung zuständig. Qua Gesetz wurde dem IAB die Hartz-Begleitforschung zugewiesen, zusätzlich haben wir ganz neue Datensätze angelegt, zum Beispiel das, was heute unter dem „Panel Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“ firmiert. Auch das Verhältnis des IAB zum Vorstand und zur Selbstverwaltung der Bundesagentur musste neu austariert werden. Eine weitere Herausforderung war, dass wir zu den Hartz-Reformen, die ja schon damals politisch umstritten waren, einen enormen Beratungsbedarf der Politik hatten. Das war schwierig, da wir zu diesem frühen Zeitpunkt ja keine entsprechenden Daten vorliegen hatten. Aus all diesen Gründen ist in meiner Amtszeit die Zahl der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr gestiegen.
Allmendinger: „Zunächst einmal habe ich damit angefangen, das Institut bunt bemalen zu lassen.“
Was waren weitere Schwerpunkte Ihrer Amtszeit?
Allmendinger: Zunächst einmal habe ich angefangen, das Institut bunt bemalen zu lassen (lacht). Damit wollte ich nach innen und außen symbolisieren, dass wir im IAB nicht in einer Behörde arbeiten, sondern in einem Forschungsinstitut. Es ging mir um einen Kulturwandel. Natürlich habe ich gedacht: Das bekomme ich nie durch. Und ich weiß auch nicht mehr, ob Florian Gerster, der damalige BA-Chef, bewusst ja gesagt hat, oder es einfach hat geschehen lassen. Cool fand ich das allemal.
Worin bestand dieser Kulturwandel?

Prof. Jutta Allmendinger | Bild: Wolfram Murr
Allmendinger: Es ging mir um eine stärkere Zusammenarbeit der Forschungsbereiche untereinander, eine bessere Nachwuchsförderung – daher habe ich ja die Graduiertenprogramme aufgelegt – und eine direkte Verbindung von universitärer und außeruniversitärer Forschung, auch durch personellen Austausch, indem ich gute Leute angeworben und gemeinsame Professuren mit den Universitäten auf den Weg gebracht habe.
Außerdem war mir ganz wichtig, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stolz darauf sein sollten, am IAB zu arbeiten und als solche die BA mit ihren Organen wie dem Verwaltungsrat beraten zu dürfen. Es ist ja ein außerordentliches Privileg, als Forscherin auch von der Politik gehört zu werden. In die Forschungslandschaft wollte ich zugleich das Signal aussenden, dass wir kein Behördeninstitut sind, sondern hochkompetitiv, etwa bei der Drittmittelakquise und der Publikation in hochkarätigen Journals. Zwischen diesen beiden Zielen – gute Beratung einerseits, hohe wissenschaftliche Leistungen andererseits – galt und gilt es, die Balance zu halten. Es geht nicht, dass Wissenschaftler am IAB entweder nur das eine oder nur das andere machen. Hier habe ich das IAB auch immer als Vorbild für andere Einrichtungen gesehen. In der ersten Evaluation des IAB durch den Wissenschaftsrat wurde dem IAB genau das auch bescheinigt.
Schulte: „Der Verwaltungsrat erwartet begründeten Widerspruch!“
Stichwort „Beratung“: Herr Schulte, wie nehmen Sie die Auftritte des IAB im Verwaltungsrat wahr?
Schulte: In aller Regel führt der Direktor oder der Vizedirektor ein, die ja das „Spiel mit den Bänken“ gut beherrschen, und übergeben dann vor allem in den Ausschüssen an einen ihrer Mitarbeiter. Manche von denen haben noch zu viel Respekt vor diesem Gremium der Selbstverwaltung. Das gibt sich aber oft nach drei oder vier Terminen, wenn die Forscherinnen und Forscher merken, dass die Mitglieder des Verwaltungsrats ganz normale Menschen sind. Letztlich erwarten wir ja begründeten Widerspruch im Sinne einer ehrlichen Beratung!
Allmendinger: Wenn Sie das so sagen, finde ich das richtig toll (lacht). Ich habe schon auch Mitglieder des Verwaltungsrats erlebt, die lediglich hören wollten, wie die Geschäftspolitik der BA empirisch untermauert werden kann. Aber es gab in der Tat auch viele inhaltlich anspruchsvolle Auseinandersetzungen, die ich heute vermisse.
Buttler: Dieses Aufeinanderprallen gab es ja schon zu meiner Zeit. Ich erinnere mich an meine erste Sitzung des IAB mit den damals noch existierenden Forschungsausschüssen von Vorstand und Verwaltungsrat 1988, als der Ausschussvorsitzende eine kontroverse Diskussion der Mitglieder über ein Forschungsergebnis des IAB mit der Aufforderung zur Abstimmung darüber abschloss, welche Auffassung richtig sei. Da habe ich tief Luft geholt und gesagt: „Wenn Sie das tun, war das die erste und letzte Sitzung der Ausschüsse mit meiner Beteiligung.“ Seither wurde nie wieder ein derartiger Abstimmungsantrag gestellt.
Allmendinger (lacht): Da weiß ich ja, was ich Ihnen zu verdanken habe!
Frau Allmendinger, zurück zu Ihrer Amtszeit: Welches waren weitere wichtige Vorhaben, die Sie angestoßen haben?
Allmendinger: Sicher das Forschungsdatenzentrum (FDZ). Heute gibt es viele solcher Einrichtungen, damals war das neu. Und es war schwer, alle davon zu überzeugen, den exklusiven Datenzugang für das IAB aufzugeben, um Forschern aus dem In- und Ausland einen geschützten und institutionalisierten Zugang zu gewähren. Mit Stefan Bender hatte ich da einen kongenialen Mitstreiter. Ebenso wichtig waren der Aufbau des Regionalen Forschungsnetzes und die Einrichtung eines Brückenkopfes in Nürnberg. Jede einzelne Regionaldirektion musste da ja mitziehen. Schließlich das Kompetenzzentrum Empirische Methoden mit Susanne Rässler als Leiterin, die im Folgenden eine große Rolle für die BA spielte.

Von links: Prof. Friedrich Buttler, Prof. Jutta Allmendinger, Karl-Sebastian Schulte | Bild: Wolfram Murr
Alt: „Das IAB hat seine Rolle als Forschungsinstitut der BA mit Bravour gemeistert.“
Gibt es denn im Rückblick Dinge, die Sie heute anders machen würden?
Allmendinger: Ja, durchaus. Ich hätte mich viel stärker für Feldexperimente in der Arbeitsmarkt- und Grundsicherungsforschung einsetzen sollen. Man hätte zum Beispiel den Mindestlohn regional und zeitlich begrenzt testen und die Wirkungen evaluieren können. Da hätte man sich viel Streit und Angst erspart. Das wirft zwar ethische Fragen auf, hat aber gegenüber der Wirkungsforschung einen deutlichen Vorteil.
Schulte: Diese Frage beschäftigt mich auch als Mitglied der Mindestlohnkommission. Wir haben heute keinen mindestlohnfreien Raum mehr, was eine Abschätzung der Wirkungen des Mindestlohns methodisch erschwert. Die Politik sollte stärker als bisher echte Experimentierräume zumindest bei Einbindung der Sozialpartner zulassen, beispielsweise aktuell bei der Gestaltung der Arbeitszeit. Dieser Mut fehlt derzeit leider.
Buttler: Das hängt ja auch mit der Methodenentwicklung zusammen. Es gibt heute neue methodische Ansätze, die es viel stärker als früher erlauben, betroffene und nicht betroffene Gruppen zu unterscheiden. Wir waren ja damals noch streng darauf verpflichtet zu sagen, dass unsere Forschung niemals Kausalitäten darlegen kann. Heute ist man da weiter und kann in stärkerem Maße auch Kausalitäten identifizieren.
Allmendinger: Im Rückblick würde ich auch die Selbstverwaltung stärker ‚ausbeuten‘, etwa als Impulsgeber bei der Generierung von Forschungsthemen und bei der Verbreitung von Ergebnissen in die Fläche.
Buttler: Zu meiner Zeit wurde das mittelfristige Forschungsprogramm (fünf Jahre) in seinen Grundzügen relativ stark von der Selbstverwaltung beeinflusst, um auch ein Echo aus der Selbstverwaltung zu bekommen. Das war auch gut und richtig. Ich war immer bereit, dem Verwaltungsrat zuzuhören und ihm dann genau darzulegen, wo und warum ich es dann doch anders gemacht habe. Ich habe mich aber immer gegen einen Eingriff in die Forschungsfreiheit verwahrt, denn dazu gehört die Möglichkeit, die Forschungsgegenstände selbst zu bestimmen. Das ist unabdingbar, trotzdem kann man sehr viel voneinander lernen. Ich kann dem IAB immer nur raten, die Ohren offen, aber gleichzeitig steif zu halten.
Allmendinger: Da sind wir einer Meinung. Was ich meinte war, dass man durch eine stärkere Nutzung des Verwaltungsrats einen breiteren Pool an Forschungsideen für das IAB hätte schaffen und den Transfer verbessern können. Außerdem hätten wir mehr Organisationsforschung für die BA betreiben können, die ja damals stark umgebaut wurde. Was sind eigentlich die Möglichkeiten der BA, sich mittel- und langfristig anders aufzustellen, beispielsweise beim Übergang von einer Arbeitslosenversicherung zu einer Arbeitsversicherung? Das hätte ich stärker forcieren sollen.
Schulte: „Die Selbstverwaltung bietet einen Erfahrungsraum, hat aber auch einen Erwartungshorizont an das IAB.“
Wie sehen Sie die Rolle des IAB als Teil der BA – insbesondere mit Blick auf die Zusammenarbeit mit den Sozialpartnern?

Heinrich Alt | Bild: Stefan Brending
Alt: Das IAB ist als wissenschaftliches Institut Teil eines Sozialversicherungsträgers. Diese besondere Konstellation ist eine spezielle Herausforderung, was Forschungsprogramm, Forschungsgegenstand, Methoden und Sorgfalt in der Interpretation der Ergebnisse angeht. Das IAB hat diese Rolle mit Bravour gemeistert und gerade in dieser Aufstellung Anerkennung und Reputation erworben, ohne einem „Lager“ oder einer „Schule“ zugeordnet zu werden. Dabei muss sich das IAB nicht nur der Debatte in der wissenschaftlichen Community stellen, sondern auch den Experten und Gremien der BA. Das ist gelegentlich mühsam, dient aber letztlich der Qualität. Jedes Argument, jeder Einwand, jeder Widerspruch ist zulässig, die Wissenschaft hat aber das letzte Wort – nur so ist Forschungsfreiheit garantiert.
Ist das auch allgemein akzeptiert?
Alt: Wissenschaft muss zuspitzen, vermeintlich Bewährtes in Frage stellen, gelegentlich vielleicht auch provozieren, wenn sie dem Fortschritt dienen will. Gefällige Forschung mag manchem angenehm erscheinen, hilft aber niemanden und verfehlt ihren Zweck.
Schulte: Das IAB sollte ein ehrlicher Makler sein zwischen Wissenschaft, Politikberatung und Selbstverwaltung. Die Selbstverwaltung bietet einen Erfahrungsraum, hat aber auch einen Erwartungshorizont an das IAB. So würde ich mir mehr Wirkungsforschung bei neuen BA-Produkten wünschen. Ich bin seit zwei Jahren im Verwaltungsrat und habe die Expertise des IAB besonders bei zwei Themen geschätzt: Zum einen als Mitglied der Mindestlohnkommission bei der dortigen Begleitforschung und zum andern bei der Flüchtlingsintegration, wo das Handwerk vor Ort sehr engagiert ist. Hier ist das IAB wie alle anderen ins kalte Wasser gesprungen und hat in kürzester Zeit ausgezeichnete Daten und Analysen erhoben. Das hat uns allen sehr geholfen. Und wenn wir tatsächlich in post-faktischen Zeiten leben mit einer neuen Form von Politisierung durch Emotionalisierung, dann ist es ein großer Wert, wenn man das IAB mit seinen evidenzbasierten Erkenntnissen als Korrektiv an seiner Seite hat.
Alt: Meine Einschätzung ist, dass das IAB im Zeitverlauf sowohl quantitativ wie qualitativ sein Gewicht in der Politikberatung erhöht hat. In der Administration wie auch bei den Parlamentariern und ihren Stäben ist das IAB als der „Think Tank“ der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik fest verankert.
Welchen Einfluss haben die Erkenntnisse des IAB auf die Arbeit des Verwaltungsrats?
Schulte: Das hängt wie immer im Leben von den handelnden Personen ab. Man kann aus den Erkenntnissen des IAB viel Honig saugen. Ich würde mir für den Verwaltungsrat einen stärkeren Input des IAB in Fragen des SGB II wünschen, auch wenn das Arbeitsministerium unsere Beschäftigung mit diesem Rechtskreis nicht immer so gern sieht. Auch im Bereich Reha und lebensbegleitende Berufsberatung kann ich mir mehr Begleitung durch das IAB vorstellen. Wirklich spannend ist es immer dann, wenn ein Thema strittig zwischen den Bänken ist und etwas Anderes rauskommt, als von den Beteiligten erwartet. Beispiel Zeitarbeit: Die einen sagen „prekär und atypisch“, die anderen „Sprungbrett“. Und eine Seite wird immer enttäuscht. Aber wenn man dann etwas tiefer in die Themen eintaucht, sorgt der wissenschaftliche Blick im Idealfall für Versachlichung und Problemlösungen im Sinne der Betroffenen. Und auch wenn wir uns mal ärgern, hat niemand die Absicht, die Unabhängigkeit des IAB in Frage zu stellen. Dabei hilft Transparenz. Es wäre nicht gut, wenn der Verwaltungsrat von IAB-Erkenntnissen, die BA-relevant sind, erst aus der Presse erfährt.
Es wird spannend sein zu sehen, wie sich das IAB verhält, wenn es zu einer neuen Politisierung der BA kommt, die sich ja abzeichnet durch die Diskussionen in einigen Parteien über einen Umbau von einer Arbeitslosen- zu einer Arbeitsversicherung oder die Wünsche mancher nach einer Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung. Wobei ich beiden Ansätzen skeptisch gegenüber stehe.
Alt: „Das IAB ist als der ,Think Tank‘ der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik fest verankert.“
Allmendinger: Das IAB wird hierzu viel zu sagen haben. Es kann hier zum Beispiel seine Expertise aus internationalen Vergleichen zur Berufs- und zur Lebensarbeitszeitforschung einbringen.
Schulte: Vielleicht wird das „B“ im Namen IAB irgendwann wichtiger als das „A“ und zu einem neuen Schwerpunkt der IAB-Forschung werden.
Allmendinger: Das hoffe ich.
Sehen Sie Deutschland auch auf dem Weg ins post-faktische Zeitalter? Und wie soll sich das IAB hier positionieren? Dringt es in einer solchen Welt schlechter durch?

Karl Sebastian Schulte | Bild: Wolfram Murr
Schulte: Politik wird, so glaube ich, andere Narrative nutzen, schon beginnend mit den Wahlen in diesem Jahr, weil wir eine stärkere Emotionalisierung der Politik bekommen, auch durch Veränderungen der Parteienlandschaft. Man wird lernen müssen, „echte Fakten“ so zu kommunizieren, dass sie als solche erkennbar sind, aber auch wirkungsmächtig bleiben in der Fachöffentlichkeit und in der öffentlichen Meinung. Das wird eine Herausforderung für alle etablierten Institutionen werden. Wenn das IAB jetzt twittert, ist das der erste Schritt. Mit sozialen Netzwerken und deren viraler Dynamik umzugehen, ohne dass der wissenschaftliche Informationsgehalt verloren geht, das wird die Herausforderung nicht nur in diesem Jahr sein.
Allmendinger: Ich sehe das genauso. Der Auftrag des IAB, zuverlässige Informationen zu geben, wird dadurch gestärkt. Wir brauchen eine kontinuierliche Umsetzung von Informationen auch mit neuartigen Formaten, die bei den Teilen der Bevölkerung, über die wir uns Sorgen zu machen haben, besser ankommen als die herkömmlichen Formate. Wir müssen aufhören zu sagen: Die Öffentlichkeit muss sich uns anpassen, sondern wir müssen auf diese Leute zugehen. Das Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung mietet zum Beispiel Szenekneipen in Neukölln an und stellt dort seine Ergebnisse zur Migrationsforschung vor. Und die Räume sind voll. Das setzt natürlich voraus, dass wir Präsentationsformen finden, um unsere Ergebnisse knapp und verständlich darzustellen.
Was sind weitere Themen, denen sich das IAB aus Ihrer Sicht verstärkt annehmen sollte?
Schulte: Die europäische Dimension der Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Sozialpolitik. Dabei geht es im Kern um die kontroverse Frage, inwieweit die nationalen Sozialsysteme miteinander verbunden werden sollten oder nicht. Mich treibt auch die Frage um nach den institutionellen Voraussetzungen erfolgreicher Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik im internationalen Vergleich, etwa wenn es um die Etablierung des dualen Systems in anderen Ländern geht. Bei solchen Fragen würde ich mir eine deutlichere wissenschaftlich-fachliche Begleitung durch das und Diskussion mit dem IAB wünschen.
Buttler: Erstens: Volle Zustimmung zur europäischen Perspektive! Bei der Übertragung des dualen Systems der Berufsausbildung ist der Fehler gemacht worden, das System mitsamt seinen bei uns historisch gewachsenen Institutionen zu transportieren. Man muss sich auf die Essentials konzentrieren, um es andernorts erfolgreich einzuführen. Zweitens: Verteilungsgerechtigkeit und ihre Bedingungen, angefangen von der frühkindlichen Bildung über die Integration in Schule, berufliche Bildung und Arbeitsmarkt, sind die zentralen Themen einer präventiv orientierten Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik. Noch einmal: Der Forschungsauftrag des IAB ist nicht auf die unmittelbaren administrativen Bedürfnisse der BA beschränkt!
Allmendinger: „Die Wissenschaft muss auf die Leute zugehen.“
Allmendinger: Aus meiner Sicht sollte man auch die Gesundheits- und Arbeitsmarktforschung noch viel stärker miteinander verzahnen – auch mit dem Ziel, der enormen Zunahme von Erwerbsminderungsrenten entgegenzuwirken. Eine andere Frage, mit der sich das IAB befassen sollte: Brauchen wir aufgrund der zunehmenden Digitalisierung eine Umfinanzierung der sozialen Sicherungssysteme, Stichwort: Maschinensteuer?
Schulte: Ein ganz wichtiges Forschungsfeld, dass man nicht aus dem Blick lassen darf, ist die Frage, wie sich durch Strukturwandel, Demografie und Binnenwanderung die ländlichen Räume mit ihren lokalen Arbeits- und Bildungsmärkten verändern – und wie sich das politisch gestalten lässt.
Alt: Was ich noch zu bedenken geben würde: Trotz Internet und schneller Verkehrsverbindungen wäre eine stärkere persönliche Präsenz des IAB in Berlin mit Blick auf die Beratung der politischen Akteure auf der nationalen Ebene überlegenswert.
Das Interview führten: Dr. Andrea Kargus und Dr. Martin Schludi